Was wäre, wenn Social Media den Nutzer*innen gehören würde?

Dezen­tra­li­siert euch!

Statt Daten in den Hän­den Weni­ger zusam­men­zu­zie­hen, denkt das sozia­le Netz­werk Dia­spo­ra* das Inter­net im Sin­ne einer alten Uto­pie. Dafür braucht es auch neue Nutzungserwartungen.

Ein LED-Panel zeigt den Schriftzug Diaspora*.
Das Logo des Diaspora*-Netzwerks auf dem Chaos Communication Congress in Leipzig 2017 | Foto: Yves Sorge, CC BY-SA 2.0

Das Inter­net ist kaputt. So, wie wir es heu­te ken­nen, ist es nicht das Inter­net, wie es ursprüng­lich geplant war. Im Kern basier­te sei­ne Idee auf ver­teil­ten Sys­te­men. Es gibt kei­nen zen­tra­len Ser­ver, es gibt kei­ne zen­tra­le Macht, jede Per­son kann ihre eige­nen Diens­te betrei­ben und dar­auf tun und las­sen, was sie will. So war die gro­ße Uto­pie der Pio­nie­re: Ein unver­mes­se­ner Kon­ti­nent, eine Sphä­re der Frei­heit, die allen die glei­chen Rech­te ein­räumt zu kom­mu­ni­zie­ren, Infor­ma­tio­nen zu tei­len, Ver­bin­dun­gen zu knüpfen. 

Das moder­ne Inter­net funk­tio­niert anders. Die eige­nen Gedan­ken wer­den nicht mehr auf der eige­nen Web­sei­te ver­öf­fent­licht, son­dern auf Face­book. Bil­der wer­den nicht mehr in ein Foto­al­bum geklebt, son­dern über Whats­App ver­teilt. Wich­ti­ge Daten wer­den nicht mehr zuhau­se auf­be­wahrt, son­dern in die Drop­box gela­den. Statt die Daten auf vie­le klei­ne und unab­hän­gi­ge Diens­te auf­zu­tei­len, hat sich eine Abhän­gig­keit von einer Hand­voll zen­tra­ler Diens­te ent­wi­ckelt, die Unmen­gen von Daten an einem Ort sam­meln und aus­wer­ten. Statt in der gro­ßen Frei­heit, bewe­gen wir uns zumeist auf recht engem Raum. Die­se Ent­wick­lung ist nicht über­ra­schend, denn die­se Diens­te sind sofort ver­füg­bar, ein­fach zu bedie­nen und meist kos­ten­frei. Kein Wun­der, dass wir uns ver­lo­cken ließen.

Das zen­tra­le Inter­net schadet

Doch die Abhän­gig­keit von gro­ßen und zen­tra­len Diens­ten ent­spricht eben nicht der Idee des Inter­nets. Und die­se Abhän­gig­keit ist gefähr­lich. Denn die­se müs­sen finan­ziert wer­den. Aktu­ell geschieht das meist über das Ein­blen­den von Wer­bung, ein hoch pro­fi­ta­bles Geschäft, das aber auf Kos­ten der Pri­vat­sphä­re jeder ein­zel­nen Nut­ze­rin geht. Und je grö­ßer die Diens­te und die Men­ge an Daten, die dort gespei­chert wer­den, des­to attrak­ti­ver wer­den die­se Diens­te für Angreiferinnen. 

Zwar haben wir bis heu­te noch kei­ne gra­vie­ren­den Sicher­heits­lü­cken in Sys­te­men wie Face­book oder Goog­le gese­hen, aber die Ver­gan­gen­heit zeigt, dass das nur eine Fra­ge der Zeit ist. Selbst wenn bei einem Angriff kei­ne Daten abge­grif­fen wer­den, könn­ten Sys­te­me für Mil­lio­nen von Nut­ze­rin­nen lahm­ge­legt wer­den. Schon allein des­halb ist die fort­schrei­ten­de Zen­tra­li­sie­rung des Inter­nets kei­ne gute Idee. Wo ist also der Aus­gang aus die­ser selbst­ver­schul­de­ten Zentralisiertheit?

Den­nis Schu­bert ist Soft­ware­ent­wick­ler und arbei­tet beruf­lich am Fire­fox-Brow­ser für ein offe­nes und frei­es Inter­net. Auch pri­vat spie­len Pro­jek­te rund um Daten­schutz und Selbst­be­stim­mung eine gro­ße Rolle.

Die Gegen­be­we­gung

Das Pro­jekt dia­spo­ra* knüpft dort an, wo die Uto­pie noch leben­dig war. Es hat zum Ziel, die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Men­schen wie­der so aus­se­hen zu las­sen, wie das Inter­net ursprüng­lich gedacht war: dezen­tral. Damit ist dia­spo­ra* nicht allein, denn vie­le ande­re Pro­jek­te wie bei­spiels­wei­se Fri­en­di­ca oder Mastodon haben das­sel­be Ziel. Dezen­tra­li­tät bedeu­tet, dass die Daten der Benut­ze­rin­nen nicht wie etwa bei Face­book ver­eint unter der Kon­trol­le einer ein­zi­gen Orga­ni­sa­ti­on lie­gen, son­dern dass die Daten auf vie­le, unab­hän­gig von­ein­an­der arbei­ten­de Stel­len ver­teilt sind. Auch wenn das auf den ers­ten Blick nur wie ein tech­ni­sches Detail aus­sieht, bedeu­tet Dezen­tra­li­tät viel mehr.

Wer einen Dienst betreibt, hat damit auch die Kon­trol­le über alle dort gespei­cher­ten Daten. Daten sind längst mehr als Infor­ma­tio­nen, die in Rechen­zen­tren gespei­chert wer­den — Daten sind eine Wäh­rung. Sozia­le Netz­wer­ke sind eine Gold­gru­be, denn wir tei­len in die­sen Netz­wer­ken Details über unser Pri­vat­le­ben. Wir tei­len wo wir uns auf­hal­ten, was wir unter­neh­men, und vie­les mehr. Für Diens­te, die sich über­wie­gend durch Wer­bung finan­zie­ren, sind die­se Daten sehr wert­voll. Je mehr die Diens­te über ihre Nut­ze­rin­nen wis­sen, des­to genau­er kön­nen sie ihre Wer­bung zuschnei­den, und des­to höher ist die Chan­ce, dass dar­auf reagiert wird und damit dem Dienst viel Geld ein­bringt. Wer­be­fi­nan­zier­te Diens­te sind nicht grund­sätz­lich nega­tiv. Doch vie­le die­ser Diens­te ent­wi­ckeln sich zu Daten­kra­ken, die um jeden Preis so viel wie mög­lich über eine Per­son erfah­ren wol­len. Das ist ein tie­fer Ein­schnitt in unser Pri­vat­le­ben, den wir nicht akzep­tie­ren müssen.

Daten bewusst ver­tei­len, statt Macht abgeben

Dezen­tra­le sozia­le Netz­wer­ke funk­tio­nie­ren grund­sätz­lich anders. Statt die Nut­ze­rin­nen zu zwin­gen, alle Daten auf einen gro­ßen Hau­fen“ zu wer­fen, also auf einen zen­tra­len Ser­ver hoch­zu­la­den, bestehen dezen­tra­le sozia­le Medi­en aus einem Netz vie­ler unab­hän­gi­ger, mit­ein­an­der ver­bun­de­nen Kno­ten. Die Idee ist nicht neu, wir ken­nen das zum Bei­spiel vom Email-Sys­tem: Hier gibt es eben­falls vie­le Kno­ten, und egal, bei wel­chem Anbie­ter die Nut­ze­rin ihr Kon­to hat, sie ist mit dem Rest des Netz­werks ver­bun­den. Voll­kom­men egal, ob das Kon­to bei Pos­teo, GMX oder Goog­le Mail liegt, der Aus­tausch mit Kon­tak­ten ande­rer Anbie­ter funk­tio­niert problemlos.

In einer per­fek­ten Welt wür­de jede dia­spo­ra*-Nut­ze­rin ihren eige­nen Kno­ten betrei­ben, bei­spiels­wei­se in Form eines klei­nen Geräts, das zuhau­se am Rou­ter ange­schlos­sen wird. Über die­ses Gerät läuft die gesam­te Kom­mu­ni­ka­ti­on mit dem Netz­werk, und dort wer­den auch alle per­sön­li­chen Daten gespei­chert. Von dort aus kön­nen die Daten dann ganz bewusst und kon­trol­liert ver­teilt werden.

Dia­spo­ra* arbei­tet nach dem strik­ten Prin­zip, Daten nur dann zu ver­tei­len, wenn das not­wen­dig und gewünscht ist. Neh­men wir als Bei­spiel vier Per­so­nen, die alle ihren eige­nen dia­spo­ra*-Kno­ten betrei­ben. Ali­ce möch­te ein Foto tei­len und hat die Mög­lich­keit, genau zu bestim­men, wel­che ihrer Kon­tak­te die­ses Foto sehen dür­fen. Teilt Ali­ce das Foto bei­spiels­wei­se mit Bob und Char­lie, dann sen­det dia­spo­ra* die­se Infor­ma­tio­nen auch nur an deren Kno­ten. Ande­re Mit­glie­derin­nen des Netz­werks, bei­spiels­wei­se Eve, bekom­men so die Daten nie zu sehen.

Statt einer Zen­tra­le zu ver­trau­en, die Daten rich­tig zu ver­tei­len und für kei­ne ande­ren Zwe­cke zu ver­wen­den, hat im dia­spo­ra*-Netz jede Benut­ze­rin die Kon­trol­le selbst in der Hand. Kno­ten, mit denen Inhal­te nicht expli­zit geteilt wer­den, erhal­ten die­se nie. Damit sind sie auch nicht in der Lage, alle Daten zu sam­meln und dar­aus ein genau­es Pro­fil zu erstellen.

Die­ses Sys­tem bringt nicht nur für den Daten­schutz Vor­tei­le mit sich. Soll­te Bobs Kno­ten auf­grund von tech­ni­schen Pro­ble­men oder einem Angriff nicht erreich­bar sein, kann Ali­ce trotz­dem mit Char­lie kom­mu­ni­zie­ren — nur Bob ist vom Netz­werk abge­schnit­ten. Im Fal­le einer Atta­cke auf Bobs Kno­ten, bei der Sicher­heits­lü­cken aus­ge­nutzt wer­den und Daten abge­grif­fen wer­den, sind nur Daten betrof­fen, die mit Bob geteilt wurden.

Tech­ni­sche und gesell­schaft­li­che Probleme

Auch wenn das Ver­tei­len von Infor­ma­tio­nen bereits sta­bil funk­tio­niert, sind Pro­jek­te wie dia­spo­ra* lei­der noch sehr weit davon ent­fernt, ein Netz­werk für alle zu werden.

Die im Bei­spiel oben erwähn­te Box, die jede inter­es­sier­te Per­son bei sich zuhau­se ans Inter­net hän­gen kann, und die als Kno­ten im sozia­le Netz­werk agiert, gibt es nicht. Zwar gibt es eini­ge Pro­jek­te, die mit die­sem Ziel ent­wi­ckelt wer­den, aber die­se sind noch weit nicht soweit, freund­lich gegen­über tech­nisch nicht ver­sier­ten Anwen­de­rin­nen zu sein. Selbst wenn es eine sol­che Box gäbe, wäre das Pro­blem damit noch lan­ge nicht gelöst. Damit ein Netz­werk wie dia­spo­ra* zuver­läs­sig funk­tio­niert, müs­sen die Kno­ten dau­er­haft mit dem Inter­net ver­bun­den und über eine fes­te Adres­se erreich­bar sein. Das ist unrea­lis­tisch, wenn das Ziel ist, die Box zuhau­se zu betrei­ben, denn Inter­net­an­bie­ter unter­sa­gen meist den Betrieb von Diens­ten im hei­mi­schen Internet.

Dia­spo­ra* kann auch funk­tio­nie­ren, wenn nicht jede Nut­ze­rin ihren eige­nen Kno­ten betreibt. Es wäre durch­aus denk­bar, dass es einen Kno­ten pro Fami­lie oder pro Freun­des­kreis gibt. Zusätz­lich könn­ten bei­spiels­wei­se Ver­ei­ne einen dia­spo­ra*-Kno­ten für ihre Mit­glie­der betrei­ben. Aber auch hier gilt: Wer den Dienst betreibt, hat Zugriff auf die Daten. Wenn man die Betrei­be­rin eines Kno­tens nicht per­sön­lich kennt, muss ein Kom­pro­miss zwi­schen Ver­trau­en und Kon­trol­le ein­ge­gan­gen werden.

Daten­schutz und Nutzerinnenfreundlichkeit

Auch wenn wir das Betrei­ben der Kno­ten völ­lig igno­rie­ren, haben dia­spo­ra* und ande­re Pro­jek­te längst nicht das Level erreicht, das Benut­ze­rin­nen von sozia­len Netz­wer­ken erwar­ten. Mög­li­cher­wei­se kön­nen die Pro­jek­te das auch über­haupt nicht.

Obwohl vie­le Men­schen sich der Daten­schutz­pro­ble­me der gro­ßen Netz­wer­ke bewusst sind, nut­zen und erwar­ten sie vie­le Funk­tio­nen, die nur funk­tio­nie­ren, weil die zen­tra­len Netz­wer­ke Zugriff auf alle Daten haben. Funk­tio­nen wie die kom­for­ta­ble Suche nach Kon­tak­ten und Freun­din­nen sind für alter­na­ti­ve Netz­wer­ke nicht ein­fach zu rea­li­sie­ren. Dia­spo­ra* sam­melt kei­ne Han­dy­num­mern aus den Tele­fon­bü­chern und der Abgleich von schu­li­schen und beruf­li­chen Wer­de­gän­gen ist eben­falls nicht mög­lich. Nicht nur müss­ten dazu die­se Daten über­haupt erst erfasst wer­den, sie müss­ten auch für alle Kno­ten erreich­bar gespei­chert wer­den, um eine netz­werk­wei­te Suche zu ermög­li­chen. Das wür­de Zen­tra­len in einem dezen­tra­len Netz schaffen.

Die Ent­wick­lung alter­na­ti­ver sozia­len Medi­en ist oft das Suchen eines Kom­pro­mis­ses zwi­schen den Anfor­de­run­gen der Nut­ze­rin­nen und dem Erhal­ten von Daten­schutz und Kon­trol­le. Mit kon­stan­ten Nut­ze­rin­nen­er­war­tun­gen ist der Sys­tem­wech­sel also nicht zu machen. Sol­che Pro­jek­te sehen sich daher nicht nur von tech­ni­schen Pro­ble­men kon­fron­tiert, son­dern auch vor gesell­schaft­li­chen Herausforderungen.

Eine Her­aus­for­de­rung

Die Betrei­be­rin­nen der Kno­ten im dia­spo­ra*-Netz­werk sind der­zeit über­wie­gend Pri­vat­per­so­nen, die sich, bzw. ihre Dienst­leis­tun­gen für die Com­mu­ni­ty durch Spen­den ihrer Nut­ze­rin­nen finan­zie­ren. Das Netz­werk besteht zu einem gro­ßen Teil aus Per­so­nen, die ein sehr gro­ßes Inter­es­se an Daten­schutz und alter­na­ti­ven sozia­len Medi­en haben und unter die­sen ist die Spen­den­be­reit­schaft ver­gleichs­wei­se hoch. Wir wis­sen nicht, ob die­ses Prin­zip auch noch funk­tio­niert, wenn Mil­lio­nen von Nut­ze­rin­nen dem Netz­werk bei­tre­ten, für die Daten­schutz nicht das vor­wie­gen­de Inter­es­se ist.

Neben dem Betrieb der Kno­ten ist die Ent­wick­lung der Soft­ware dahin­ter eine gro­ße Her­aus­for­de­rung. Soft­ware­ent­wick­lung ist auf­wen­dig und damit teu­er. Gera­de dezen­tra­le sozia­le Netz­wer­ke ste­cken hier in einer Zwick­müh­le: Nicht nur müs­sen sie Anfor­de­run­gen bewäl­ti­gen, die klas­si­sche sozia­le Netz­wer­ke mit Mil­li­ar­den­bud­gets umset­zen, son­dern durch die ver­teil­te Natur der Daten sind vie­le tech­ni­sche Berei­che deut­lich kom­ple­xer als sie das bei einem zen­tra­len Netz­werk wären.

Dia­spo­ra* ist ein gemein­nüt­zi­ges Pro­jekt mit offe­nem Quell­code und offe­ner Ent­wick­le­rin­nen­ge­mein­schaft. Die Ent­wick­lung fin­det durch Frei­wil­li­ge in ihrer Frei­zeit statt. Zwar machen die Ent­wick­le­rin­nen das, weil sie Spaß dar­an haben und die Moti­ve hin­ter den Pro­jek­ten unter­stüt­zen, aber gro­ße Sprün­ge machen Pro­jek­te auf die­se Art nicht. Geschäfts­mo­del­le oder Spon­so­ren für sol­che Pro­jek­te sind schwer zu fin­den, auch hier sind vie­le von den Spen­den der Nut­ze­rin­nen abhängig.

Ein­fach mal machen

Dia­spo­ra* sieht sich nicht als Face­book-Kil­ler, son­dern mehr als Spiel­platz oder offe­nes Labor, in dem inter­es­sier­te Ent­wick­le­rin­nen und Benut­ze­rin­nen gemein­sam an Lösun­gen zu den Pro­ble­men arbei­ten und das funk­tio­niert sehr gut.

Wenn wei­ter­hin vie­le Pro­jek­te nach den Wegen in das ande­re Inter­net suchen, ist zu hof­fen, dass irgend­wann eines die­ser Pro­jek­te den Durch­bruch schafft und damit eine daten­schutz­freund­li­che Alter­na­ti­ve zu den zen­tra­len Netz­wer­ken geschaf­fen wird. Eine Alter­na­ti­ve, die hof­fent­lich ohne gro­ße Kom­pro­mis­se auskommt.

Und bis dahin machen wir ein­fach mal weiter.